Schneefall im kleinen Walsertal

O Flocke, du milchiges Gramm,
So schwer ist die Welt im Drehn.

Ach Flocke, du mickriges Gramm,
So leicht ist die Welt im Drehn.

So leicht ist’s und schwer zu verstehn:
Du, Flocke, kommst auf die Welt im Vergehn.

Himmel und Hölle

Im frühen Januardunkel
auf dem asphaltierten Spielfeld
hinter dem Schulhaus
zwischen den zwei Toren
eine schwarze Silhouette,
die nach vorne fällt.
Über sie gebeugt sieht er:
Auf den Feldern eines Spiels
liegt sie, die alte Dame,
Himmel und Hölle, Kinderspiel.
Die umgekippte Tasche, daneben
Schirm und Haube
auf dem nassen Asphalt.
Er hilft ihr auf. Für sie
ist er ein junger Mann.
Ach, der Schwindel, sagt sie.
Durchs Januardunkel gehen sie,
eingehakt, ein Winterpaar.
Nach dem Fall, vor dem Fall,
Himmel und Hölle,
sie und er im selben Spiel.
Und ihre Wärme und seine Wärme
ist alle Wärme dieser Welt.

patumbahspatz

hergeflogen aus dem park
liegt er auf dem balkon
übers geländer werf ich ihn
mit leichtem schwung zurück
sein letzter flug ein fall
in das ersehnte land

Laudation für Hugo Ramnek,
1. Zürcher Lyrikpreis 2012

Die fünf Gedichte von Hugo Ramnek zum Motiv FALLEN bilden fünf Annäherungen,

Spielarten auf diesem weiten Bedeutungsfeld. Während sich das erste, „Schneefall im kleinen Walsertal“, tastend, im Kreise drehend, in immer neu ansetzenden Wiederholungen aufmacht, das Leichte, Wirbelnde des Schnees zu ergründen, wobei mit dem „mickrigen Gramm“ das Pathos von „O Flocke“ und „Ach Flocke“ gebrochen wird, ist das dritte Gedicht „patumbahspatz“, bei dem ein Fall zum „letzten Flug in das ersehnte Land“ wird, von bittersüsser Lakonie geprägt.

Im ausgezeichneten vierten Gedicht „Himmel und Hölle“ wiederum vermag auf dem Grundriss eines Kinderspiels eine Begegnung von anrührender Menschlichkeit zwischen einer alten Dame und einem auf sie jung wirkenden Mann das Januardunkel zu erhellen, nach einem Sturz infolge eines Schwindelanfalls.

Die Szene wirkt inszeniert, aus dem Alltag gehoben der Zufall, wie auch beim Kinderspiel „Himmel und Hölle“ zuerst ein Spielfeld mit Strassenkreide auf den Boden gezeichnet werden muss. Das „Hölle“-Feld muss übersprungen werden, und auch hier wird die Möglichkeit des Liegenlassens, des Nicht-Reagierens in einer Zeit, in der der öffentliche Raum oft von Vandalismus, Littering und Wegschauen geprägt ist und der gegenseitige Respekt zwischen den Generationen fehlt, dieses Feld gleichsam übersprungen.

Das Spielfeld ist asphaltiert, die Stimmung düster, etwas gespenstisch fällt die schwarze Silhouette nach vorne, doch ineinandergehakt verlassen die beiden das Feld, ein „Winterpaar“, wie es Ramnek bezeichnet, eine Vision des Zueinanderfindens zweier sich erst noch Unbekannter.

Vielleicht hat sich die Frau auch an ihre eigene Kindheit erinnert, worauf sie Schwindel ergriff? Beim Kinderspiel erst noch gehüpft, ist sie nun gefallen.

Das Gedicht kulminiert in den Versen „Und ihre Wärme und seine Wärme/ ist alle Wärme dieser Welt“. Ein Kreis schliesst sich. Wer es beim Kinderspiel in den Himmel geschafft hat, macht sich wieder auf den Weg zur Erde.

— Sabina Naef, Oktober 2012

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